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Wenn Eltern mit ihren Kindern reden wollen, ist das nicht immer ganz einfach. Doch was, wenn beide nicht einmal eine gemeinsame Sprache sprechen? Hörende Eltern und ihre tauben Kinder stehen mitunter schon bei alltäglichen Dingen vor Problemen: Die Eltern können ihr Kind nicht einfach fragen, was es essen möchte. Sie können ihm auch nicht sagen, dass sie es liebhaben. «Man hat keine Kommunikation mit seinem eigenen Kind», sagt Romy Ballhausen, Mutter eines gehörlosen Sohnes und Vizepräsidentin des Bundeselternverbands gehörloser Kinder. Möglich wird Kommunikation mit der Gebärdensprache mit ihren visuellen Gebärden, der Mimik und Oberkörperbewegungen. Doch viele Eltern setzen laut Ballhausen eher auf technische Geräte wie Cochlea-Implantate (CI) und das Erlernen der Lautsprache. «Ärzte stellen den Eltern oft in Aussicht, dass die Kinder mit CI gut hören lernen und die Deutsche Gebärdensprache nicht brauchen», sagt Ballhausen. «Man kann sich unserer Erfahrung nach aber nicht zu 100 Prozent auf die Technik verlassen, weil sie bei einigen Kindern gar nicht und bei anderen Kindern nicht in jeder Gesprächssituation funktioniert. Die Kinder haben auch kein Backup, wenn sie einmal ausfällt», sagt die Hamburgerin. Vielfach können Gehörlose oder Schwerhörige mühelos über Stunden über Gebärdensprache miteinander quatschen, sind bei Lautsprache-Runden aber rasch ermattet, weil sie sich extrem konzentrieren müssen, um der Kommunikation folgen zu können. Denn: Das elektronische Hören mit einem Hörgerät oder einem CI ist anders als das natürliche Hören. CI-Träger haben oft Schwierigkeiten in lauten Umgebungen oder bei Hintergrundgeräuschen. Das Verstehen von Sprache in solchen Situationen kann herausfordernd sein. Auch Musik klingt teils nicht sonderlich angenehm und die Lärmempfindlichkeit kann erhöht sein. Probleme trotz Technik «Etwa 30 bis 50 Prozent der Kinder haben trotz der Technik Probleme in der Lautsprachentwicklung», sagt Claudia Becker, Professorin für Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität Berlin. Ein störungsfreies, entspanntes Hören sei mit Implantat oft nicht möglich. «Das fängt schon bei kleineren Gruppen an, in denen alle durcheinander reden.» Ein CI ist eine elektronische Innenohrprothese. «Cochlea-Implantate übernehmen die Funktion der Sinneszellen, indem sie den Schall aufnehmen und daraus elektrische Impulse bilden, die zur weiteren Verarbeitung ins Gehirn gegeben werden», erklärt Thomas Lenarz, Professor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Direktor der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover. In Deutschland bekommen demnach jährlich etwa 5.500 Patienten ein CI, davon etwa 600 in Hannover. Eine offizielle Statistik zur Zahl gehörloser Menschen in Deutschland gibt es nicht. Der Bundeselternverband gehörloser Kinder schätzt, dass es jedes Jahr etwa 5.400 bis 8.400 Kinder zwischen 0 und 3 Jahren gibt, die mit einer Höreinschränkung geboren wurden oder ertaubt sind. Von diesen Kindern hätten etwa 90 bis 95 Prozent hörende Eltern. Thomas Lenarz meint, es sei nichts gegen Gebärdensprache einzuwenden. «Ich würde nur nicht systematisch von Anfang an beides machen», sagt er. «Die Dominanz der Lautsprache im gesamten Alltag, im Leben ist so stark, dass es natürlich darauf ankommt, dass die Kinder diese auch primär benutzen, weil sie damit natürlich alle Chancen haben.» Seiner Erfahrung nach bräuchten die meisten Kinder mit Cochlea-Implantat die Gebärdensprache nicht. Er empfehle Eltern aber, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. «Sie können sehr viel authentischer und besser sagen, wie es bei ihnen gelaufen ist», so der Arzt. Verband: Gebärdensprache wird oft vernachlässigt Feststellbar sind Hörbeeinträchtigungen schon wenige Tage nach der Geburt bei einem Neugeborenenscreening. «Die Diagnose trifft viele Familien wie ein Schock», sagt Robert Jasko, Referent bei der Deutschen Gehörlosen-Jugend. Er kritisiert, dass viele Eltern allein auf Technik setzten. «Dieser Weg, so gut er gemeint ist, führt oft dazu, dass die natürliche Muttersprache des Kindes - die Gebärdensprache - vernachlässigt oder erst spät in Betracht gezogen wird». Auch Romy Ballhausen warnt: «Es geht viel Zeit mit Sprechtraining und lautsprachlichen Übungen verloren, viel Kommunikation, die auch anders möglich wäre, bleibt aus, die Entwicklung des Kindes kann dauerhaft geschädigt werden.»Die Gehörlosen-Jugend macht mit einem Video in sozialen Medien auf mögliche schwerwiegende Folgen aufmerksam, die eine unzureichende Kommunikation haben kann: Identitätskrisen, starke Unsicherheitsgefühle, Depressionen oder auch Angstzustände. Auch die Beziehung zu den Eltern könne sehr problematisch sein. Jasko spricht von einem «unsichtbaren Riss» zwischen Eltern und Kindern, der sich im Laufe des Lebens noch vertiefen könne. «Kinder lernen auch schwerer, sich in andere Menschen hineinzuversetzen oder Konflikte zu lösen. Sie können aggressiv werden oder sich zurückziehen», erklärt die Wissenschaftlerin Claudia Becker. Thekla Werk, Präsidentin des Bundeselternverbands gehörloser Kinder und Gebärdensprach-Dozentin sagt, dass taube Kinder oft die Diagnose ADHS erhielten. Doch die Kinder seien oft nur vermeintlich wild oder aggressiv, weil sie sich nicht ausdrücken könnten. «Wenn ich in den Familien bin und dort die Gebärdensprache unterrichte, erlebe ich, dass die Kinder und die Familien insgesamt viel entspannter werden, wenn sie eine gemeinsame Sprache finden.» Kurse sind teuer und schwer zu bekommen Gebärdensprachkurse für Familien finden meist zu Hause statt, damit die Familien lernen, im Alltag zu kommunizieren. Anfangs seien es etwa vier bis sechs Stunden pro Woche, später weniger, erklärt Werk. Der Unterricht sei oft über Jahre nötig. Mit etwa 75 Euro pro 45 Minuten seien die Kurse relativ teuer und viele Familien deshalb auf Unterstützung angewiesen. Wenn sich Eltern für das Erlernen der Gebärdensprache entscheiden, würden ihnen mitunter viele Steine in den Weg gelegt, berichten Betroffene. «Mein Antrag auf einen Haus-Gebärdensprachkurs lag zwei Jahre auf dem Tisch eines Sachbearbeiters, dann zog sich die Gerichtsverhandlung über vier Jahre, bis meine Tochter überhaupt zweieinhalb Stunden pro Woche einen Kurs bekommen hat», sagt Ann-Cathrin Wehmeier, Leiterin der Geschäftsstelle des Bundeselternverbands gehörloser Kinder. Kleine Gebärden - etwa für Hunger, Durst, Schlafen, Mama, Papa - könne man sich am Anfang selbst «zusammenpuzzeln», darüber hinaus sei es ohne Unterricht schwierig, erklärt Wehmeier. Gebärdensprachen sind ebenso komplex wie gesprochene Sprachen. Sie verfügen über ein umfassendes Vokabular und eine eigenständige Grammatik.«Es ist oft auch ein Problem der Fläche. Manchmal ist auch Geld da ist, aber dann wohnt jemand in einer sehr ländlichen Gegend, in der es keine taube Lehrkraft gibt, die die Familie unterrichten kann», sagt Claudia Becker. Verlässliche Daten darüber, wie viele Eltern gehörloser Kinder die Gebärdensprache lernen, gibt es der Wissenschaftlerin zufolge nicht. Der Elternverband schätzt, dass nur in einer von zehn betroffenen Familien die Gebärdensprache erlernt wird. Eltern und Kinder haben plötzlich eine gemeinsame Sprache«Die Grundbedürfnisse können auf einmal geäußert werden, man hat auf einmal eine gemeinsame Sprache», berichtet Romy Ballhausen aus der Erfahrung mit ihrem Kind. «Es gab plötzlich einen Entwicklungsschub, mein Sohn konnte Fragen stellen, vorher war er dazu gar nicht in der Lage.» Dass ihr Kind nun eine andere Erstsprache habe als sie selbst, sei durchaus eine Herausforderung im Familienalltag, sagt Ballhausen. «Aber wenn eine Vokabel fehlt, beschreibt man das eben etwas noch einmal mit anderen Worten.» Aus ihrer Sicht war das Erlernen der Gebärdensprache ein großer Schritt, der das Frustrationspotenzial deutlich gesenkt und dem Kind den Zugang zum Weltwissen ermöglicht habe. Das Erlernen sei eine herausfordernde, aber auch erfüllende Reise: «Mit jeder Gebärde, die die Eltern lernen, öffnet sich ein weiteres Fenster in die Welt ihres Kindes», sagt Robert Jasko. Verband fordert unabhängige Beratung Ballhausen betont, dass der Elternverband nicht gegen Technik wie CIs sei: «Jede Familie muss ihren Weg finden, mit oder ohne technische Unterstützung, aber Gebärdensprache muss auf jeden Fall angeboten werden», sagt sie. Der Verband fordert eine unabhängige Beratungsstelle, die alle Optionen aufzeigt. «Eltern sollen sehen, dass ein erfülltes Leben ohne CI eine dieser Optionen ist, die sie ebenso frei für ihre Kinder wählen können. Sie sollen eine informierte Entscheidung treffen», so Ballhausen. Bildnachweis: © Christian Charisius/dpaCopyright 2024, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten