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Ein umfassender Report über die medizinischen Gräueltaten im Nationalsozialismus zeigt deutlich, dass die Taten nicht nur von Einzelnen ausgingen. «Es ist oft überraschend, wie begrenzt das Wissen über die medizinischen Verbrechen der Nazis in der medizinischen Gemeinschaft heute ist, vielleicht abgesehen von einer vagen Vorstellung von Josef Mengeles Experimenten in Auschwitz», sagte Hauptautor Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien.Aus diesem Grund hatten er und seine Mitstreiter dem Chefredakteur des Fachjournals «The Lancet» vor drei Jahren die Gründung einer Kommission vorgeschlagen, die dieses Wissen erweitern und Schlüsse für die Zukunft ziehen sollte.Der nun präsentierte Report von 20 Wissenschaftlern und Ärzten stütze sich auf 878 Quellen und sei der bislang umfassendste Bericht über diese Gräueltaten, schreibt «The Lancet». Er zeichnet den Werdegang der medizinischen Forschung in der Nazizeit auf und porträtiert einzelne Täter ebenso wie einzelne Opfer und inhaftierte Ärzte, die beispielsweise unter schwierigsten Bedingungen ihren Mitinsassen, etwa in Konzentrationslagern, behandelt haben.Zu den genannten Tätern gehört Elisabeth Hecker, eine nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik angesehene Kinderärztin und Jugendpsychiaterin. Für ihre Verdienste um die Etablierung der Jugendpsychiatrie in Deutschland erhielt sie 1979 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.Erst 1995, neun Jahre nach ihrem Tod, wurde ihre Rolle in Schlesien während der Nazizeit bekannt, als sie eine Jugendpsychiatrie leitete. «Im Rahmen des sogenannten Kinder-Euthanasie-Programms ordnete sie die Überführung der Kinder in die örtliche Tötungseinheit an und versuchte, die Tötungsgenehmigung auch dann durchzusetzen, wenn die Eltern auf die Entlassung des Kindes aus der Klinik bestanden», heißt es im Bericht.Noch heute werden Zeichnungen der Nazizeit genutztEin weiteres Anliegen der Kommission ist es, Mediziner dafür zu sensibilisieren, woher das vermittelte medizinische Wissen kommt. So wird der Anatomieatlas des österreichischen Anatomen Eduard Pernkopf wegen der Detailtreue bis heute verwendet.Dabei nutzte der überzeugte Nationalsozialist auch Bilder von Menschen, die in der Nazizeit hingerichtet worden waren. «Medizinstudierende, Forscher und praktizierende Gesundheitsfachkräfte sollten wissen, wo - und von wem - die Grundlagen des medizinischen Wissens stammen; das sind sie den Opfern des Nationalsozialismus schuldig», sagt Shmuel Pinchas Reis von der Hebrew University of Jerusalem, ein Co-Vorsitzender der Kommission.Der Bericht listet zahlreiche Daten auf, so halfen deutsche Gesundheitsexperten demnach bei der Ausarbeitung von Zwangssterilisationsgesetzen und sterilisierten mindestens 310.000, möglicherweise aber mehr als 350.000 Menschen, die als genetisch minderwertig eingestuft worden seien.Viele Sterilisierte hatten danach schwere körperliche und psychische Probleme. Oft war der Eingriff tödlich. Während des Zweiten Weltkriegs seien mindestens 230.000 Menschen, die an verschiedenen geistigen, kognitiven und anderen Behinderungen litten und als lebensunwert galten, in sogenannten Euthanasieprogrammen in Deutschland und den eroberten Gebieten ermordet worden. Zehntausende Menschen seien medizinischer Zwangsforschung unterzogen worden.Bericht ist nur ein erster SchrittDer Chefredakteur von «The Lancet», Richard Horton, berief die «Lancet»-Kommission zu Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust im Januar 2021 ein. Sie soll nicht nur historische Beweise sammeln, sondern auch die Auswirkungen der Taten auf heute darlegen und Lehren für die Zukunft aufzeigen.«Die medizinischen Gräueltaten der Nazis gehören zu den extremsten und am besten dokumentierten Beispielen medizinischer Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte», sagt Sabine Hildebrandt von der Harvard Medical School in Boston (Massachusetts), eine weitere Co-Vorsitzende der Kommission. «Wir müssen die Geschichte des Schlimmsten der Menschheit studieren, um ähnliche Muster in der Gegenwart zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, mit dem Ziel, das Beste zu fördern.»Ihren Bericht sehen die Autoren als ersten Schritt an, sie planen umfangreiche Online-Dokumentationen. Sie bieten zudem ein neues Bildungsparadigma an, das sie «geschichtsinformierte berufliche Identitätsbildung» nennen, und legen einen Plan vor, wie es in die medizinische Ausbildung übernommen werden kann.Bildnachweis: © Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpaCopyright 2023, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten