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Es begann mit einem neuen Telefon in seiner Büroküche in Berlin, das kaum mehr aufhören wollte zu klingeln. Am anderen Ende der Leitung: aufgewühlte bis aufgelöste Menschen mit Fragen zu der damals neuen Krankheit Aids, dem erworbenen Immunschwächesyndrom. «Unser Ziel war es, irgendetwas zu tun», sagt Stefan Reiß. «Zum Beispiel uns als Ansprechpartner zur Verfügung stellen, wenn Leute abstrakte Angst haben vor der Krankheit. Die Gefahr der Hysterie war damals das Zentrale.»Der heute 72-jahrige Reiß ist einer von rund zehn Menschen, die auf Initiative der Krankenschwester Sabine Lange und des Verlegers Bruno Gmünder vor 40 Jahren in Berlin die Deutsche Aidshilfe (DAH) gründeten. Das war am 23. September 1983. Die zunächst geheimnisvolle Erkrankung wurde 1981 erstmals in den USA beschrieben, das HI-Virus als Ursache erst zwei Jahre später entdeckt. Wer sich damals infizierte, erkrankte fast immer an Aids, was den Tod bedeutete. «Wir waren völlig überfordert. Wir hatten keinerlei Ausbildung für Beratung», sagt Reiß über die Anfangszeit.Unter den Gründern der Selbsthilfeorganisation waren schwule Männer oder Menschen mit engen Kontakten zu ihnen. Wie etwa der Betreiber einer Schwulenbar, dem Kunden oft ihr Herz ausschütteten, wie Reiß erzählt. Hinzu kamen Menschen, die intravenös Drogen konsumierten sowie Menschen in Sexarbeit und aus besonders stark von HIV betroffenen Ländern. Das sind bis heute Kern-Zielgruppen.Übertriebene Ängste?Zu der Zeit habe es zunächst viele Menschen gegeben, die Aids für aufgebauscht hielten und die um erkämpfte Emanzipation bangten, erläutert DAH-Sprecher Holger Wicht. Andere wähnten demnach nur die USA betroffen oder verdrängten das Thema. «Der Kipppunkt war 1983. Da haben viele verstanden, wie gefährlich es ist.» Manche Menschen seien damals teilweise häufiger auf Beerdigungen als auf Geburtstage gegangen. Und es ging um die Frage: Kann man weiter Sex haben?Krankenschwester Lange war für Stefan Reiß eine zentrale Figur: Sie habe für medizinischen Sachverstand gestanden und das Vertrauen vieler Schwuler genossen. Diese hätten sich in der damaligen Landesimpfanstalt bei ihr anonym auf exotische Krankheitserreger untersuchen lassen, die plötzlich gehäuft bei schwulen Männern auftauchten. Sehr früh habe die schüchtern wirkende Frau bei Aids den Ernst der Lage erkannt, auch durch Kontakte zu Erkrankten.Die Lage in Deutschland Von Epidemiebeginn bis Ende 2021 haben die Folgen einer HIV-Infektion in Deutschland nach Schätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) mehr als 32.000 Menschen das Leben gekostet. Die geschätzte Anzahl der Neuinfektionen sank nach Spitzenwerten Mitte der 1980er Jahre bis Ende der 1990er deutlich. Dann gab es eine Zeit lang einen Wiederanstieg. Mit rund 1800 Infektionen 2021 liegt der Wert wieder so niedrig wie zu Beginn der Nullerjahre.HIV-Diagnosen werden oft erst Jahre nach der Infektion gestellt. Denn die Symptome, die relativ kurz nach der Ansteckung auftreten, können mild sein und werden oft fälschlicherweise als Infekt gewertet. Danach sind Betroffene oft erst einmal längere Zeit beschwerdefrei. Das RKI geht aktuell von rund 8600 Menschen hierzulande aus, die nicht wissen, dass sie HIV-positiv sind.Prävention vor dem InternetzeitalterDer DAH ging es in der Anfangszeit etwa darum, Informationen zu beschaffen und zu verbreiten. Das Internet gab es noch nicht. Stattdessen: Flugblätter. 1984 erschienen zum Beispiel Tipps, wie man sich verhalten soll, wenn ein Freund Aids hat. Ihn nicht meiden, für ihn sorgen - solche Dinge. «Was sind wir dafür geprügelt worden, dass wir Selbstverständlichkeiten aufschreiben», sagt Reiß.Das große Problem sei die Verklemmtheit der damaligen Gesellschaft gewesen. Kondome habe es in der Regel nur in Apotheken und auf Männertoiletten gegeben. Über Homosexualität sei nicht offen gesprochen worden. Kampagnen wie heute «nach dem Motto: Socken aus, Kondom an»: undenkbar. Seit 1985 bekommt die DAH staatliche Förderung für ihre Präventionsarbeit, wie Wicht sagt.Mit der Zeit wurde mehr Klartext möglich. Die berühmte Kampagne «Gib Aids keine Chance» und eine Telefonberatung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) begannen 1987. Die Rote Schleife als Symbol der Solidarität mit Betroffenen gibt es seit 1991, erdacht von einer Künstlergruppe in New York.Aidshilfe heuteDie DAH ist heute ein Dachverband von rund 120 Einrichtungen in Deutschland. Es dreht sich längst nicht mehr alles um HIV. Sondern breiter um Gesundheitsfragen der Zielgruppen und verwandte Themen.Als «Stimme der Betroffenen» würdigt Katja Römer aus dem Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä) die DAH. Es bestehe eine langjährige enge Kooperation, trotzdem gebe es durchaus unterschiedliche Standpunkte, wenn es etwa um den Inhalt von medizinischen Leitlinien gehe. «Aber es ist eine Bereicherung, die Perspektiven der Community einzubeziehen.» Über sexuelle Gesundheit aufzuklären und gegen das Stigma anzugehen, sei nach wie vor wichtig. «Medizinisch haben wir HIV exzellent im Griff. Aber die Betroffenen brauchen Unterstützung und Beratung.»Was medikamentös möglich ist - und wo es noch haktEine HIV-Infektion ist zwar bis heute nicht heilbar, die Viren lassen sich aber medikamentös in Schach halten. Als Durchbruch gilt die Kombinationstherapie, die um 1996 eingeführt wurde. Verläuft sie erfolgreich und werden die Medikamente streng eingenommen, so könnten Betroffene mit einer annähernd normalen Lebenserwartung rechnen, schreibt der Verband forschender Arzneimittelhersteller. Einer HIV-Infektion lässt sich mittlerweile auch durch Medikamente vorbeugen: 32.000 Menschen hierzulande nutzen nach RKI-Angaben die sogenannte PrEP (Präexpositionsprophylaxe).Dass im Umgang mit HIV-positiven Menschen dennoch bis heute vieles im Argen liegt, ist auch die Erfahrung der DAH, wie Sprecher Wicht sagt. Ein Beispiel seien Berührungsängste gegenüber Betroffenen im medizinischen Bereich. Diskriminierung sei häufig. «Wir haben viel erreicht, sind aber noch nicht am Ziel.» Errungenschaften sieht Wicht auch im heute viel liberaleren Umgang mit Drogenkonsum, etwa mit der Ausgabe von sauberem Spritzbesteck. Geblieben seien zahlreiche Anfragen von Menschen mit Ängsten und Fragen rund um HIV und Aids. «Aber die Lage ist bei weitem nicht mehr so dramatisch wie damals.»Bildnachweis: © picture alliance / dpaCopyright 2023, dpa (www.dpa.de). Alle Rechte vorbehalten